Die Erinnerung ist die Voraussetzung der Entwicklung, die wiederum das Wesen des Lebens ausmacht. Alle unsere Krisen entstehen, weil die Erinnerung nicht respektiert wird.

 

Tadeusz Kantor

 

Den in den Aufführungen von Cricot 2 enthaltenen Bezügen auf die katholische und jüdische Symbolik kam eine wichtige Rolle im Theater von Tadeusz Kantor zu, obwohl sie kein Grundthema seiner Werke waren.

Das künstlerische Schaffen Kantors konzentrierte sich auf die folgenden Begriffe: Realität und Illusion, Leben und Tod, Identität und Universalität, Erinnerung und Geschichte. In seinem Theater nahm er die Zuschauer auf eine Reise zu seinem Geburtsort Wielopole mit, holte dabei aus den Schlupfwinkeln seiner Erinnerung Familienmitglieder, Freunde und Stadtbewohner wieder hervor und verwob alles mit aktuellen Ereignissen und Dilemmas. Diese Aufführungen ohne logische Chronologie, konstruiert aus Fragmenten, Figuren, Worten, Gesten und Musik, die nur in den Erinnerungen erhalten geblieben sind, offenbarten die Vorstellung einer durch die grauenhaften Totalitarismen des XX. Jahrhunderts zerstörten Welt. Eine Vorstellung und keine Abbildung mit dem Anspruch auf die Darstellung der einzig objektiven Wahrheit. Der Zuschauer konnte sich auf diese Weise in der Figur des Autors spiegeln und wurde zu einer Revision seiner persönlichen Beobachtungen über die Erinnerung und die Geschichte provoziert. Katholizismus und Judentum, die den Lebensrhythmus der polnisch-jüdischen Gemeinschaft der kleinen galizischen Stadt vorgaben, waren selbstverständlich ein untrennbarer Bestandteil dieser Welt. Dem Zuschauer wurde dennoch keine einfache Lesart von Situationen und Symbolen angeboten. Alles erfolgte unter Verwendung von diametral gegensätzlichen Bedeutungen. Kantor rief eine Illusion hervor, um sie in einer Konfrontation mit der Realität zu kompromittieren, und beschwor den Tod, um das Leben zu veranschaulichen. Das Erhabene kam in der Erniedrigung zum Vorschein, das Sacrum wurde im Profanum sichtbar.

Die religiösen Einflüsse, in deren Geiste der Autor der „Toten Klasse“ erzogen wurde, bargen aber auch tiefere Konnotationen. Sie sind beispielsweise in seinem letzten künstlerischen Kredo zu finden, das – ähnlich wie die beiden monotheistischen Religionen – im Zentrum des Interesses den konkreten Menschen stellte.

Jede Darbietung des Werks von Kantor behandelt wichtige Aspekte, die alle Ausstellungen betreffen, in denen das Theater eine wesentliche Rolle spielt. Dabei lässt sich die Bühnensprache des Theaters in keinen anderen künstlerischen Code übersetzen. Wie kann man also in den Ausstellungsräumen ein nicht mehr existierendes Werk präsentieren, das zudem stets auf seiner Vergänglichkeit beharrte? Für den Künstler selbst war der Augenblick der Erschaffung eines materiellen Produkts wichtiger als dieser selbst. Er schlug vor, den Schaffensprozess mit dem eigentlichen künstlerischen Schaffen gleichzusetzen – Proben anstelle von Aufführungen, Zeichnungen und Projekte anstelle fertiger Bilder. Die nach der Erschaffung des Werks zurückbleibende Staffage sollte mehr über die Hölle des Schaffensprozesses aussagen, als das finale Produkt. Er bewahrte Gegenstände auf, die üblicherweise entsorgt werden, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben, ohne ihnen Wichtigkeit oder Chronologie zuzuweisen. Dies geschah nicht, um die Dokumentation, die erforderlich ist, um den Entstehungskontext eines Werkes nachzuvollziehen, zu erläutern oder zu vervollständigen, sondern um die für den Künstler wichtigste Arbeit – den Schaffenswahn selbst – zu veranschaulichen.

Bei der Gründung des Museums des Cricot 2-Theaters wollte Kantor darin vor allem Bühnenobjekte unterbringen. Er erschuf Repliken verschollener Theatermaschinen, Kostüme und Bühnenbildelemente. Den bei den Aufführungen eingesetzten Gegenständen verlieh er den Rang von Artefakten. Sie stellen autonome Kunstwerke dar und sollen gleichzeitig aus der Erinnerung Ideen reproduzieren, die in den nicht mehr greifbaren Aufführungen enthalten waren, denn: Wenn der Mensch und das Werk aufhören zu existieren, bleibt die Erinnerung, eine in die Zukunft an die nächste Generation versandte Botschaft.

 

Neben Objekten spielte die Zeichnung eine wichtige Rolle in dieser visuellen Botschaft an die Zukunft. Die Zeichnung war stets gegenwärtig, sowohl im Leben als auch im künstlerischen Schaffen von Tadeusz Kantor. Paradoxerweise legen heute gerade die Zeichnungen, die im Vergleich mit Gemälden gemeinhin als weniger wertvoll gelten, oftmals ein beredteres Zeugnis von seinem künstlerischen Schaffen als seine Bilder oder die Filmaufzeichnungen von flüchtigen Theateraufführungen ab.

 

In dem in Nürnberg vorbereiteten Schauspiel „Die Künstler sollen krepieren” stellte Kantor Veit Stoß – den deutschen Bildhauer aus dem XV. Jahrhundert, der den Hochaltar der Marienkirche in Krakau erbaut hatte – gekleidet in das Gewand eines Bohemien der vorletzten Jahrhundertwende dar. In dem Stück folgt die Figur des Bildhauers einer Varieté-Hure, die sich in einen Todesengel verwandelt hatte und ihm den Weg weist. An dieser Stelle wird deutlich, wie stark die Kunst Kantors in der polnischen Tradition des Symbolismus verankert war. Schauen wir uns beispielsweise den Engel an, der eine deutliche Verwandtschaft mit den Engeln von Jacek Malczewski verrät: Ähnlich wie bei Malczewski passt er nicht mit der im Katholizismus eingebürgerten Vorstellung eines Engels im Sinne eines reinen, überirdischen, unendlich schönen und zarten Wesens zusammen. Der zur künstlerischen Bewegung „Junges Polen“ der vorletzten Jahrhundertwende gehörende Künstler stellte Engel als bildschöne und lebhafte Dorfmägde dar. Der Kantorsche Engel wurde zwar zu einem Varieté-Mädchen degradiert, es steht jedoch außer Zweifel, dass die Engel von Malczewski hier Pate standen. Veit Stoß kehrte ins heimatliche Nürnberg zurück, nicht wissend, dass ihn dort nur noch Erniedrigung und Tod erwarteten. Kantor identifizierte sich in dem Schauspiel mit dem Schicksal des mittelalterlichen Bildhauers. Auf seinem künstlerischen Weg begleiteten ihn stets die Zweifel, ob die von ihm gewählte Richtung und die beschrittene Route die richtigen seien. Der Todesengel – das gefallene Mädchen, der Engel und der Teufel (auch ein gefallener Engel) in einem – verkörpert diese Unsicherheit. Kantor bediente sich in seiner Kunst des Symbols, er erschuf jedoch keine symbolische Kunst. Er verformte das Symbol, verwandelte seine Form und seine Botschaft, um das Werk der analytischen Kontinuität zu entziehen: das Bild und das Symbol, die Perzeption und die richtige ideelle Interpretation. Aus derart modifizierten Symbolen konstruierte er keine neuen Allegorien, sondern verflocht sie mit den Peripetien seines eigenen künstlerischen Schaffens und Lebens, wodurch seine Werke nie ganz subjektiv, aber auch nie vollkommen universell sind.

Für Kantor stellte seine Kunst eine unaufhörliche Reise durch Raum und Zeit dar, auf der er nach Antworten auf die aktuelle Wirklichkeit suchte. Er vertrat die Ansicht, dass das künstlerische Schaffen nicht darin besteht, die Lebensrealität abzubilden, sondern die Aufgabe hat, die Antwort eines Künstlers auf die Begebenheiten des Lebens zu formulieren. Die Kunst Kantors gehört bereits der Geschichte an und es hat den Anschein, als sollte man nur aus der Perspektive ihrer Entstehungszeit über sie sprechen. Vor über 20 Jahren schrieb der Künstler in den „Mailänder Lektionen”: „...im Laufe der Zeit erschienen und erwuchsen zu einer ungeheuerlich Macht (...) die bedrohlichen Symptome unserer Epoche: /stumpfe Bürokratie, allmächtige Technik, /Kannibalismus des Konsums, /allgemein verbindlicher Praktizismus des Lebens,/ der den Verstand und den menschlichen Geist abstumpfen lässt.../ Albtraumhafte Kolosse der Supermärkte werden zu Tempeln des neuen/ Konsumgottes und des materialistischen Lebens./(..) Um jeden Preis muss man diesen Tempeln und diesem Gott gegenüber gottlos bleiben/. (...) Nacheinander vergegenwärtigt sich der Verstand immer neue immer klarer/ neue Argumente./ Spiritualismus,/ der Imperativ des GeisteS, DIE AHNUNG einer anderen Welt, / der Begriff des Todes, / des Unmöglichen, / ungeduldigES warrten vor der Tür, / hinter der/ sich die für unsere Sinne und Begriffe/ unzugänglichen Gefilde erstrecken. (...) In diesen Zeiten des Terrors der schicken Verseltsamung (...) bedarf es großen Mutes, um die alltägliche,/ banale,/ arme, /krude /REALITÄT zu postulieren.”

 

 

Lech Stangret

Übersetzung: Aleksandra Kwasnik & Grzegorz Dlubak